Eberhard Steneberg, mein Kunst-Mentor

Von Dr. Jelena Hahl-Fontaine (Kunsthistorikerin)

Ende 1959 habe ich ihn kennen gelernt und verdanke diesem ebenso kreativen wie gelehrten Künstler seither sehr viel. Mein Heidelberger Professor, Dmitrij Tschizewsky, Slawist, Philosoph (Husserl-Schüler) und Kunstkenner, hat von Stenebergs russischer Avantgarde-Ausstellung erfahren, der ersten weltweit, und einige Studenten mit nach Frankfurt genommen, auch mich Erstsemestler. - Nein, es waren eben nicht meine Kunstprofessoren, die in den 50-er Jahren sogar Kandinsky, Klee und Marc für Scharlatane hielten und den einzigen Heidelberger Dozenten, der sich mit ihnen zu beschäftigen begann, Klaus Lankheit, nicht Professor werden ließen; er ging dann an die Technische Universität Karlsruhe und wurde dort Professor. - Also: im Frankfurter Karmeliterkloster, genannt « Rotes Kloster », empfing uns ein agiler, lebhafter Mann, schwarzhaarig mit Spitzbart und glühenden Augen. Enthusiastisch erklärte er uns alles, stundenlang, wie mir schien. Ich war fasziniert! - Bald darauf lud ihn Professor Tschizewsky ein, in Heidelberg einen Vortrag zu halten; und ich erinnere mich noch, wie wir uns danach noch lange an einem breiten Seminartisch gegenüber saßen und endlos diskutierten. Einige Zeit später lud mich Steneberg ein, mit ihm zusammen in Frankfurt einen Vortrag zu halten, er über die russische Avantgarde, ich über Kandinsky, - ich glaube an der Universität, weil es am Tage stattfand.

Als ich nach dem Studium an der Uni Erlangen und dann in Bern unterrichtete, blieben wir wohl in losem Kontakt. Und als ich anschließend mit meinem Mann nach München zog, besuchte er uns gelegentlich, wo ich in Museen viel von ihm lernte. Er machte mich auch mit der ebenfalls abstrakt arbeitenden Künstlerin Menny Schwarz bekannt (eigentlich Gräfin Rosa von Lerchenfeld), die jeden Sommer Malkurse auf ihrem Besitz bei Regensburg veranstaltete, mit Steneberg als Leiter. Dort habe ich gelegentlich meine neuen Freunde besucht, zwar nicht an Stenebergs Kursen teilgenommen, aber von ihm erfahren, wie er die Schüler mit dem Aquarellieren und der Landschaftsmalerei bekannt macht. Man beginnt nie mit Abstraktion, das kann erst anschließend erarbeitet werden!

Einmal kam uns von weitem eine korpulente Frau entgegen, und Steneberg erklärte: « Meine ukrainische Sonnenblume ». Es war seine Frau Halina, eine Malertochter, « also Kummer gewöhnt », wie er lachend bemerkte. Seine Frau und seine Freunde nannten ihn immer "Hapson", englisch ausgesprochen, aber keiner wußte mehr, woher dieser Spitzname gekommen ist. - Mit der kleinen Tochter Bettina lebten sie in Frankfurt sehr arm und beengt, bis die SPD einige geräumige Atelierwohnungen für Künstler in der Nordweststadt schuf. Dort hatte einmal seine Tochter abends Freundinnen zu Besuch, die sich wunderten über Geräusche vom Atelier her. « Ach, das ist mein Vater, er tanzt dort machmal allein ». - Eine Wohnzimmernische hatte er matt königsblau angestrichen, um darauf kreuz und quer seine kleinsten frühen Bilder anzubringen - wunderschön! - Manchmal lebte die kleine Familie von Halinas Adelsgeld, 300 Mark monatlich, denn vom Vater her war sie adlig, und in Deutschland gab es offenbar eine Stiftung für notleidende Adlige. Zum Geldverdienen gab Steneberg also Sommerkurse und machte professionelle Restaurierungsarbeiten, auch an der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München. Von einem Bild von Franz Marc weiß ich genau, daß er es gereinigt und leicht restauriert hat, wie er mir erzählte. - Steneberg hat es immer abgelehnt, auszustellen, wollte vor allem nicht von einer Galerie abhängig sein, verkaufte gelegentlich privat, auch in Frankreich. Vor allem die bekannt Sammlerin und Mäzenin, Hannah Bekker vom Rath, kaufte ihm für viel Geld Bilder ab, um ihn zu unterstützen und weil sie seine Arbeiten schätzte. Diese Information wurde mir auch von der gemeinsamen Bekannten, Hanna Lambrette, bestätigt. Für weniger Geld kaufte auch ich, und einige Male schenkte er mir ein kleines Bild, besonders, nachdem ich auf seiner Atelierterrasse alle bis dahin gemalten Bilder fotografiert habe; und nachdem ich die russischen Briefe von Pavel Mansurov übersetzte. Denn der in Frankreich lebende Avantgardist beantwortete Stenebergs französische Briefe lieber in seiner Muttersprache. Steneberg sprach zwar fließend französisch, doch weder er noch seine Frau konnten Russisch.

Anfang der 70-er Jahre trafen wir uns einmal in Paris. Seine russischen Freunde, Larionov, Gontscharova, Mansurov und andere Emigranten waren schon gestorben. Es waren wirkliche Freundschften entstanden seit den Vorbereitungen zu deren Ausstellung in Frankfurt; man merkt es an Mansurovs Briefen und den vielen kleinen Bildgeschenken an ihn und seine Tochter Bettina, die er manchmal auf Reisen mitnahm. Hätten sie Stenebergs Kunst nicht geschätzt, hätten sich niemals so enge Freundschaften bilden können. Zum Beispiel konnte er Gontscharova sogar die sehr persönliche Frage stellen, weshalb sie und ihr Mann Larionov nicht im selben Zimmer schlafen (« er schnarcht »). Und er kannte in deren enger Wohnung den Speicher, wo ihre frühen Bilder lagerten, die keinen Menschen in Paris interessierten, bis endlich ein paar kleine Galerie-Ausstellungen zustande kamen. Auch Mansurovs Vertrauen besaß er, aber nicht ganz. Denn von dessen Nachbarn erfuhr er, daß Mansurov, der wegen der Casino-Nähe in Nizza lebte, immer gern zu abgerissenen Häusern ging, um alte Türen zu holen. Wozu wohl? Um auf dem echt alten Holz seine alten Motive aus der Avantgardezeit neu zu erfinden. Denn allmählich wurde die Bedeutung jener russischen Epoche erkannt, und die Preise stiegen und stiegen. Emigranten hatten ja kaum Gelegenheit, Dutzende Bilder in die Emigration zu retten, und nur bei Vordatierungen kann man halbwegs von Fälschung sprechen ....Jedenfalls sind alle, wirklich alle osteuropäischen Künstler, die Steneberg 1959 ausgestellt hat, inzwischen weltweit nicht nur als Wegbereiter von Konstruktivismus und Abstraktion anerkannt, sondern ihre Bilder erreichen zum Teil Auktionspreise in Millionenhöhe.

Weshalb interessierte sich Steneberg schon so früh gerade für diese Künstler? Weil er aus Weimar kam? Er war zwar zu jung für das "Bauhaus", bekam jedoch indirekt über Künstlerkontakte noch die Auswirkungen mit. Das "Bauhaus" war ja in vielen Aspekten die Fortsetzung der Moskauer VCHUTEMAS (Vereinigung für Kunst und Technik), wo der Konstruktivismus und der geometrische Stil erfunden wurden. Tatsächlich war von mindestens 1910 nicht mehr Paris, sondern Moskau und St. Petersburg die führenden Kunstzentren. Und da sich Steneberg in seiner eigenen Kunst schon früh zu diesem Stil hingezogen fühlte, wollte er gleich an die Quelle gehen, zu den russischen und anderen osteuropäischen Avantgardisten. Es hat sicher Jahre gedauert, bis er den Kontakt zu den hauptsächlich nach Frankreich ausgewanderten Malern gefunden hatte, die fast alle arm und halbvergessen waren: im Osten verfemt und die im Westen erst sehr langsam die verdiente Anerkennung fanden.

In Paris machte mich Steneberg mit der russischen Künstlerin Anna Staritzky bekannt, deren Arbeiten ich in ihrem kleinen Hof fotografierte, und mit Nicolas de Staëls Meisterschülerin Herta Hausmann. Wie rücksichtsvoll der Kollege war: als ich vorschlug, er solle doch telefonisch einen Termin ausmachen, antwortete er: « aber nicht vormittags, Maler arbeiten meist am Vormittag ». Unsere Diskussionen drehten sich häufig um Kandinsky, besonders als ich am Lenbachhaus wissenschaftlich an seinem Nachlaß zu arbeiten begann. Wir stritten unerbittlich, denn er warf diesem großen Wegbereiter der Moderne vor, seine Quellen zu verheimlichen, hauptsächlich die Theorien von Fritz Henning, wobei ich sicher war, daß ihn Kandinsky nicht kannte. Was hatte er selbst von Henning gelernt? „Alles ist Mathematik und Symbolik. Zum Beispiel das spitze, aggressive Element des Männlichen, und das weiche, empfangende Prinzip des Weiblichen; Gegensätze grün-rot, gelb-blau usw.“ Als Weimarer hatte Steneberg noch mit der Nachfolge des « Bauhauses » zu tun und litt als abstrakter Maler natürlich darunter, daß „alles schon erfunden ist“: Seine kleine ironische Zeichnung von Klee und Kandinsky und ihm selbst mit einem Hammer bewaffnet (in seinem posthumen Katalog abgebildet) ist eine klare Aussage. - Viele Bilder Stenebergs liebte ich sehr, doch einmal fragte ich ihn (weil ich ja auch Lissitzky und Moholy Nagy mit ihren durchgehenden einfachen Linien verehre), weshalb er so oft die Linienführung bricht. Er antwortete nur: „Aber das ist es ja genau“! Weitere Fragen verschob ich leider auf später. - Was die Technik des Malens mit Ölfarbe betrifft, hat er mir einmal erklärt, was er anfangs nicht wußte und erst später experimentierend dazugelernt hat: eine zweite Schicht über die erste zu legen für spezielle Effekte. Er hat ja nie Gelegenheit gehabt, gründlich in einer Kunstakademie zu studieren, sondern hat nur professionell das Restaurieren gelernt. Wie hoch man die "innere Notwendigkeit" (um mit Kandinsky zu sprechen) bei ihm einschätzen muß: Trotz großer körperlicher Anstrengung - denn er hatte beim Brettersägen einen Arm verloren - war er unermüdlich am Malen, hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, hat sogar die Rahmen selbst hergestellt; die Qualität war ihm wichtig, ob ein Bild je einen Käufer fand, war ihm egal. Das zeichnet schließlich jeden großen Künstler aus. Doch er war nicht nur zuversichtlich, sondern absolut sicher, daß seine Kunst später, vielleicht viel später die verdiente Anerkennung finden würde.

Ein gekauftes ovales Bild - den ovalen Rahmen hat er aus einem runden Faßstreifen hergestellt - , « Aigues Mortes » halte ich für eines seiner Meisterwerke (die er sonst nie verkaufte, sondern in die Sammlung seiner Tochter gab). Nach einem Besuch dieser Stadt an der französischen Südküste konnte ich kaum fassen, wie der Künstler mit wenigen abstrakten Elementen alles Charakteristische eingefangen hatte: die gleissende Sonne, die weissen, aus dem Meer gewonnenen Salzberge, den schweren Rotwein. Keine Abbildung ist adäquat, denn die oft dick aufgetragene Ölfarbe fügt ein Oberflächenrelief hinzu, was die russischen Avantgardemaler « faktura » nannten und ebenfalls als sehr wichtig erachteten.

Als der Direktor des Lenbachhauses, Hans Konrad Röthel, mich bat, der Herkunft eines lebensgroßen Frauenporträts nachzugehen, das von der renommierten Galerie Stangl in München als "Frühwerk Kandinskys » ans Guggenheim Museum in New York (für sehr viel Geld) verkauft worden war, fragte ich natürlich als erstes Stenebergs Meinung. Da praktisch alle Maler anfangs figurativ und realistisch zu arbeiten beginnen, hätte dies ja auch auf Kandinsky zutreffen können ...Tatsächlich konnte mir Steneberg jedoch etliche Hinweise geben, ja, dieser auch theoretisch ständig arbeitende und gut informierte Künstler hatte sogar schon einen Brief nach New York geschrieben, daß das Bild eher von Kandinskys Kollegen, Dmirij Kardovskij, stammt. Steneberg hatte ja schon mehrere Aufsätze und zwei Bücher veröffentlicht, wurde von Roters und anderen Kunsthistorikern anerkannt und sammelte unentwegt theoretisches Material. Ich forschte also in der russischen Literatur weiter und konnte hieb- und stichfest beweisen, daß es tatsächlich ein Kardovskij war. Als dies nach Röthels Meinung eine Publikation werden sollte, schlug ich natürlich Steneberg vor, es zusammen zu machen. Aber er lehnte ab (typisch für ihn!), und so ist es in meinem Aufsatz im „Pantheon“ 1974 nur bei einem Dank an ihn geblieben.

Meine nächste wichtige Frage an ihn kam 1978 aus Los Angeles, wo ich der Kuratorin Stephanie Barron am County Museum bei der Vorbereitung einer umfassenden russischen Avantgarde-Ausstellung half (1980 dort, in Chicago und Washington gezeigt). Steneberg nahm regen Anteil, sogar mit einer Skizze, wie man am geschicktesten hängen sollte. Übrigens steht der riesigen Menge seiner Briefe an mich ziemlich wenig von meiner Seite gegenüber, weil ich öfter anrief mit meinen Fragen, er aber dann ausführlich schriftlich antwortete.

Nach meiner zweiten Heirat und dem Umzug nach Belgien arbeitete ich mehrere Jahre an einer Kandinsky-Monografie, zu der er mir ebenfalls Anregungen schickte. Kurz vor deren Erscheinen, Anfang 1993, veranstaltete ich in Brüssel mit dem Musée Royal und dem Goethe-Institut die einwöchige Tagung « Was hat Kandinsky den heutigen Künstlern noch zu sagen? » Unter den sechs auf verschiedene Weise abstrakt arbeitenden Malern wurde natürlich auch Steneberg ausgestellt, konnte aber selbst wegen Krankheit nicht kommen, also auch keinen Vortrag halten. Das tat dann Prof. Rudolf Ortner, der noch bei Kandinsky am Bauhaus studiert hatte, sowie zwei Experten aus Frankreich. Von Halina hörte ich dann immer wieder Klagen, wie stur ihr an Krebs erkrankter Mann sei, nicht ins Krankenhaus will und nicht einmal einen Arzt sehen möchte. Von ihm selbst hörte ich, wie gern er noch eine weitere Publikation über den « Arbeitsrat für Kunst » fertig gestellt hätte, für die er schon so viel Material gesammelt hat. So nötig dies vielleicht gewesen wäre, wichtiger finde ich, daß seine eigene Kunst endlich den Widerhall findet, den sie verdient und von dem der Künstler selbst und seine Frau überzeugt waren, daß dies eines Tages geschehen würde. Wie schön, daß dies jetzt geschieht, dank Hanna und Roland Lambrette und Dr. Inge Wierda.

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